1757 Frauenrevolte
Im „Heimatbuch des Kreises St. Wendel“, Ausgabe 1950, erschien ein Artikel von Klaus Jung über „Gewaltstreiche St. Wendeler Frauen“. Darin wird geschildert, wie sich eine Gruppe hiesiger Frauen Mitte des 18. Jahrhunderts lautstark und auch handgreiflich gegen den Abtransport von sieben zweibrückischen Deserteuren, die in St. Wendel in Gewahrsam genommen worden waren, zur Wehr gesetzt haben und dafür zu hohen Geldstrafen verurteilt worden sind. Klaus Jung kannte wahrscheinlich einen Aufsatz von Max Müller, veröffentlicht im St. Wendeler Volksblatt vom 26.8.1936, wo dieser mit viel Phantasie und dichterischer Freiheit denselben Vorfall beschrieben hat. Im Landeshauptarchiv Koblenz existiert eine Akte, die Berichte und Vernehmungsprotokolle zu den damaligen Vorgängen enthält und die es erlaubt, den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse zu rekonstruieren.
Am 2. April 1757 tauchten in St. Wendel sieben Deserteure auf, die unmittelbar nach ihrer Ankunft verhaftet und ins städtische Wachthaus gebracht wurden. Tags darauf sollten sie von einem Hauptmann Wimpfen übernommen und abtransportiert werden. Zwar befürwortete der zuständige Amtmann Franz Ernst von Hame die Inhaftierung der Deserteure, lehnte aber deren Auslieferung an den Hauptmann Wimpfen wegen fehlendem kurfürstlichen Befehl ab. Letzterer kritisierte diese Haltung und verwies nicht nur auf die engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem kurtrierischen Amt St. Wendel und dem Herzogtum Zweibrücken, sondern erinnerte den Amtmann daran, dass Zweibrücken bereits im Jahre 1723 Verbrecher an Kurtrier ausgeliefert habe. Schließlich verständigten sich beide auf eine Auslieferung der Deserteure.
St. Wendeler Frauen erfuhren von dem drohenden Abtransport der Deserteure und entschlossen sich, sicherlich aus Mitleid, dies zu verhindern. Sie wandten sich hilfesuchend an Anna Margaretha Hetzerath, geb. von Hame, Ehefrau des kurtrierischen Kellners von Saarburg, die ihnen dazu riet „wan die Weiber was thun könten das sollten sie thun!“
Nun überschlugen sich die Ereignisse.
Ein Augenzeuge, der kurtrierische Korporal Breithecker, berichtete, dass sich „die bürger weiber in gesel[l]schaft Verschiedener Mannschafft Zusammen rottirt [hätten], bevor das detachement [unter Befehl Wimpfens] würcklich angekommen [sei], [sie] hätten das bürgerliche wachthauß angefallen, gestürmet, die wachtstubben Thür Zerschmettert, die Trierischen Soldaten, so gewachet, gehalten, und denen Arrestaten die fenster aufgemachet, damit sie ausspringen sollen, wie sie dan auch ausgesprungen, Von welchen der auf der wacht von außen in der gaß gestandener soldat nach Zweyen geschossen, und bleßiret, Einer davon ist mit der Wunde entloffen, der andere am bein Verwundet in des Schwanen Hauß Von denen weiberen getragen worden“.
Die übrigen Deserteure flüchteten durch die untere Pforte (Ende Luisenstraße) und wurden von Hauptmann Wimpfen mit seinen Soldaten bis zur Pforte verfolgt, wo diese auf die „attrouppirte[zusammengerottete] bürgerschaft (…) [trafen, die] die port Versperret, und sich ihme widersetzet, wodurch dan geschehen, daß diese Deserteurs, ehe Er Zur stadt hinauskommen konnte, ein merckliches Vorahn geloffen, biß auf den Einen blesirten entkommen, und wo nicht der Hauptmann discret gewesen, das gröste Unglück würde entstanden seyn“.
Dennoch drohte die Situation zu eskalieren, wie Zeugenaussagen bestätigen: „Der strumpfstricker, obig schulteß haus, hans henrich rioth hatte ein stück holz Von einem wagen worahn man die leitheren ahn zu binden pfleget genohmen, undt [war] auff den hn.[Herrn] haubtman eingeloffen, worüber der Zweybrückische feldtwebel dem hn. haubtman in die arme gefasset, und gesaget, er sollte den degen ein thun, den[n] sie wären auf fremden boden, undt [es] schickte sich nicht, daß [sie] sich zur wehr stelleten, welches der haubtman dan auch gethan, undt darauff der strumpfstricker mit dem holtz sich verloffen. Jn Eben dißen tummult hätte Anton Mey dem soltaten Johan becker die flinten mit gewalt abnehmen wollen, undt [jemand] den anton Mey hinterwerths beym rock ergriffen und Zurück gezogen, womit der tummult geändiget, und der haubtman mit seinem detachement fortgegangen“ sei.
Den St. Wendeler Schützen Peter Seyler verdächtigte die aufgebrachte Menschenmenge, die Deserteure verraten zu haben. Deshalb wurde er „ an gefallen, geschlagen, und mit steinen aus dem orth biß an die uhrweyler Mühl verfolgt [und] ihme sein Haußgeschirr verschlagen“.
Die Vorfälle in St. Wendel blieben für die Beteiligten nicht ohne Folgen.
Der Kurfürst schickte eine Untersuchungskommission nach St. Wendel, die den Fall vor Ort untersuchte. Gegen die Hauptbeschuldigten wurde ein Gerichtsverfahren eröffnet, in dem die Angeklagten allerdings vehement ihre Beteiligung an den Vorkommnissen leugneten; u.a. erklärten die Kuhhirtin Maria Katharina Wagner: „Sie hätte geglaubt es seye nerrdey[…], undt das guken seye ihr erlaubt wie anderen leuth, undt derweg wäre sie mitgeloffen“ und Magdalene Schmitz: „Sie wüsse von nichts undt hätte auch davon nichts gehört, sie seye nicht herausgegangen, undt auch nichts gesehen“.
Alles Leugnen nutzte nichts. Die Beschuldigten wurden hart bestraft: „Georg Adam Franz, Johann Georg Clomen, Johann Henrich Riott, Clara Jungs, Clara Lauers, Agnes Angel, Margaretha Rioth, Catharina Schue, Susanna Humes, Christina Breiniger, Anna Maria Hallauer, Magdalena Riber, Barbara Keller, Barbara Thulle; Johannetta Weber, Johannetta Lion, Elisabetha Mons, Catharina Frans, Margaretha Liser, Angela Knoll, Dorothea Schwang, Catharina Becker, Elisabetha Angel, Maria Catharina Keller, und Maria Catharina Wagner in die straff von hundert goldgulden und zware in solidum, anbey in drey Vierttheil deren hierüber aufgelassener Kösten.
Mattheis Wagener nebß deme Beytrag Zu obgemeldeten 3 Viertel theil Kösten ins besondere in die straff von 15 goldgulden.
Georg Adam Franz, Johann Georg Clamen, sodan Leonard Wagener wegen des Peter Seyler gewalthätiger mißhandlung Zusammen, und in Solidum in die straff Von 25 goldgulden und in das 4te Theil Kösten, anbey weiters auf eben[s]o [?] arth und weis Zu Condemniren gemeldeten Petern Seyler die curirungs Kösten, wie weniger nicht den werth des zerschlagenen hauß geschierrs (welches derselbe Eydlich erhärten wird) so dan für schmertzen, und sonstigen schaden 20 florin Rheinisch 4. alb Zu Zahlen“.
Auch der Amtmann Franz Ernst von Hame wurde gerügt, weil er sich bei der Freigabe der Deserteure auf ein Auslieferungsabkommen zwischen dem Haus Österreich und Frankreich berufen habe, das aber nicht für die übrigen Reichsfürsten gegolten habe: „Gleichwie Euch die im Jahr 1757 auf Zweybrückische requisition gethane arrestir und würcklich Bewilliget gehabte ausliefferung deren 7. Deserteurs Von deme Regiment Royal Deux Ponts Keines Weegs gebühret hat; also wird Euch solches hiermit alles ernstes nicht nure Verhoben, sonder auch weithers Verordnet, daß Ihr Zur etwaiger deßen Empfindung die Beköstigung der Zu S. Wendel gewesener Commision aus eigenen eweren Mittelen Tragen sollet“.
Kurfürst Johann Philipp von Walderdorff erließ den St. Wendeler Frauen einen Teil der Geldstrafe, den der St. Wendeler Spezialeinnehmer Coenen, wie den Prozessakten gegen Coenen aus den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts zu entnehmen ist, offenbar unterschlagen hat .
Über das weitere Schicksal der Deserteure geht aus den Akten nichts hervor.
Quellen:
Landeshauptarchiv Koblenz 1 C Nr. 7528
Stadtarchiv St. Wendel A 152, pag. 301-303